Altpapier baut Häuser

Grosse Ehre für Fredy Iseli: Idee Suisse – die Schweizerische Gesellschaft für Ideen- und Innovationsmanagement – hat ihm am 18.Oktober den Schweizer Innovationspreis 2018 zur Förderung der wirtschaftlichen Zukunftschancen verliehen. Ausgezeichnet wurde der Thurgauer Architekt und WIR Teilnehmer für seine Entwicklung eines neuen Baustoffs aus recyceltem Papier. Im englischen Märchen «Die drei kleinen Schweinchen» pustet der Wolf das Strohhaus und das Haus aus Ästen der beiden faulen Schweinchen einfach weg und frisst sie auf. Nur das Ziegelsteinhaus des fleissigen, schlauen Schweinchens bietet Schutz. Überraschenderweise würde sich der Wolf auch an einem «Papierhaus» Fredy Iselis die Zähne ausbeissen: Die mit einer Zement Emulsion beschichteten und mit Holz- oder Zementfaserplatten zu Verbundelementen verklebten Waben aus Wellkarton sind zwar zwölfmal leichter als Beton und dreimal leichter als Holz, brauchen bezüglich Belastbarkeit und Brandschutz aber keinen Vergleich zu scheuen.

Erste statisch belastbare Isolation…

Der von Iseli ECOCELL benannte Ökobaustoff für Decken, Wand- und Dachkonstruktionen ist dank des hauchdünnen Zementüberzugs der Papierwaben feuerhemmend und wasserabweisend. Die Druckfestigkeit der ECOCELL-BETONWABE von über 200 Tonnen pro Quadratmeter ist ebenso eindrücklich wie die Spannweite der Fredy Iseli mit Waben aus mineralisch beschichteter Wellpappe. Mit Holzplatten beplankt (Hintergrund) wird das Altpapier zu einem feuerhemmenden, wasserabweisenden, wärmedämmenden und hoch belastbaren Wand-, Decken- oder Dachelement.

ECOCELL löst auch das Sandproblem

Die Erstellung von Gebäuden nach dem ECOCELL-Prinzip ist der herkömmlichen Bauweise, die auf Backsteine und Beton setzt, nicht nur bezüglich CO2-Bilanz überlegen: ECOCELL kommt auch ohne Sand und Kies aus. Speziell der Rohstoff Sand steckt in unvorstellbaren Mengen in zwei Dritteln aller Bauwerke der Erde. Auch in jedem Kilometer Autobahn befinden sich rund 30000 Tonnen Sand. Die Vorstellung, dass Sand in unbegrenzter Menge zur Verfügung steht, ist falsch. Aufgrund der grossen Anzahl von Talsperren gelangt nur noch etwa die Hälfte des von den Flüssen gebildeten Sandes in die Weltmeere und an die Küsten. Und dort wird er in grossem Stil abgebaut, da aus Kiesgruben und Flussbeeten immer weniger Sand gewonnen werden kann.

«Sand-Mafia»

Gemäss einem Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2014 ist vor allem in Afrika und Indien eine eigentliche Sand-Mafia entstanden, die ganze Strände leer putzt oder mit riesigen Schwimmbaggern den Ozeanboden absaugt. Der Sandhunger ist dort am grössten, wo die ambitioniertesten Bauten entstehen: In Asien – z.B. Singapur – und in arabischen Staaten. Wüstensand können Letztere nicht nutzen, da die Körner zu klein, zu glatt und zu rund sind, sodass ein Bindemittel nur schlecht daran haftet. Das Resultat des Sandabbaus sind Strände und ganze Inseln, die verschwinden – nicht zu sprechen von den Auswirkungen auf die Fauna des Ozeanbodens. Die ECOCELL-Bauelemente sind Leichtbau-Verbundwerkstoffe aus recyceltem Papier und Holz. Sie können schnell und einfach montiert bzw. demontiert und wiederverwendet werden. Deckenelemente von bis zu sechs Metern, die ohne Stützen oder Träger überspannt werden können. Eine weitere Eigenschaft kommt hinzu: Die von zwei Massivholzplatten beplankten Waben sind dank der Lufteinschlüsse ebenso wärmedämmend wie Vollholz. Iseli: «Eigentlich handelt es sich bei diesem Baustoff um eine Isolation, die im Verbund statisch belastet werden kann.» Das dürfte weltweit einzigartig sein.

…die CO2 bindet

Nicht nur die sinnvolle Verwendung von Altpapier und Holz macht ECOCELL zum Ökobaustoff. Während Ziegelstein und Beton grosse Mengen an Energie für ihre Herstellung benötigen und CO2 verursachen, bindet das ECOCELL-Schnellbausystem das für den Klimawandel verantwortlich gemachte Treibhausgas. Konkret: Beim Bau eines dreistöckigen Hauses mit 600 Quadratmetern Wohnfläche bindet der Werkstoff ECOCELL rund 50 Tonnen an CO2 aus der Atmosphäre, während konventioneller Baustoff rund 100 Tonnen CO2 in die Atmosphäre abgibt. Längerfristig und bei industrieller Fertigung der ECOCELL-Bauelemente sind Kosteneinsparungen von 20 bis 30 Prozent im Vergleich zum Massivbau (Backstein/ Beton) durchaus möglich. Dann wird sich auch der kostenbewusste Bauherr in einem umweltfreundlichen ECOCELLHaus wohlfühlen. Iseli sieht hier einen Ansatz für den sozialen Wohnungsbau oder für den Einsatz in Katastrophengebieten, etwa nach einem Erdbeben. Die ersten ECOCELL Häuser stehen in St.Margrethen und sind bereits seit über einem Jahr bewohnt. Weitere entstehen in Uttwil (TG). Trotz guter Wärmedämmwerte, die eine zusätzliche Isolation eigentlich erübrigen, will Iseli in Uttwil einen Schritt weitergehen. Eine transparente Wärmedämmung soll an der Fassade wie ein Pelz oder Mantel fungieren und zusätzlich mit Photovoltaikmodulen belegt werden. Das System ermöglicht es, die gesamte Gebäudehülle mit Photovoltaikanlagen zu versehen und die Selbstversorgung mit Strom sicherzustellen. Iselis Vision: Eine Energiegemeinschaft mehrerer Hauseigentümer, die über eine zentrale Batterie Energie speichert und bezieht.

Auf Ihrer Website fredy-iseli.ch findet sich ein Zitat von Steve Jobs, in dem er die Verrückten, die Nonkonformisten, Rebellen, Unruhestifter, Unangepassten und die Querdenker hochleben lässt. Wo reihen Sie sich hier ein?

Iseli: Ein bisschen verrückt muss man schon sein. Wenn ich gewusst hätte, was für ein Hürdenlauf mir bevorsteht, hätte ich vielleicht die Finger davon gelassen.

Verrückte und Querdenker gelten im eigenen Land nicht immer als Propheten: Ihre Erfindung wurde bereits vor zwei Jahren in Deutschland als herausragende Innovation auf den Gebieten Umwelttechnologie und Nachhaltigkeit mit Europas bedeutendstem Umwelt- und Wirtschaftspreis – dem Green Tec Award, 1. Preis in der Kategorie Bauen & Wohnen – ausgezeichnet. Die Schweiz hinkt hinterher…

Wichtiger als Ehrungen ist, dass wir in der Schweiz über bestens ausgebildete Fachleute verfügen, die Neuentwicklungen möglich machen. Für uns dient die Schweiz als Pilotmarkt: Hier muss man den höchsten Ansprüchen in Sachen Bauqualität gerecht werden. Wenn das gelingt, kann man überall in der Welt Erfolg haben.

Wie kamen Sie auf die Idee, Altpapier für den Hausbau einzusetzen?

1992 habe ich eine Kartonagefabrik in Amriswil – mehr wegen des Grundstücks an zentraler Lage – übernommen. Mit der Entwicklung einer Transportpalette aus Altpapier hat dann alles begonnen. Die leichte, aber stabile Platte mit einem Kern aus Wellpappe-Waben kam als Alternative zu Spanplatten aus gepresstem Holz aber auch in der Möbelbranche gut an. Sogar in der Automobilindustrie fand sich eine Verwendung: Dünn geschnittene Papierwaben eignen sich dank ihrer Stabilität und Leichtigkeit gut als Innenraumverkleidung. Als Architekt habe ich mir natürlich eine Anwendung im Hausbau überlegt. Der Durchbruch war geschafft, als in Zusammenarbeit mit Labors und Prüfinstituten eine Beschichtung der Papierwaben mit einer Zementemulsion gelang – unabdingbar für den Brandschutz!

Sie sind nicht nur Pionier, sondern mit Ihrem Architekturbüro Iseli A+P AG auch konventionell mit Beton, Glas und Stahl unterwegs. Wann werden Sie nur noch Papierhäuser bauen?

Ursprünglich war die Idee, dass ECOCELL-Häuser nur gemietet werden können. Heute planen wir jedes Projekt sowohl konventionell wie auch auf ECOCELL-Basis. Wir versuchen dann, dem Bauherrn die Vorteile eines ECOCELL-Hauses aufzuzeigen. Die ersten vier freistehenden ECOCELL-Häuser in St. Margrethen werden nun seit einem Jahr bewohnt, für vier Reihenhäuser in Uttwil stehen die Vorverträge.

Sie haben viele Millionen in die Entwicklung Ihrer Idee investiert. Wann ist ECOCELL rentabel?

Die Entwicklungsphase ist mit dem Bau der ersten Häuser jetzt abgeschlossen. Viel Geld haben auch die 15 Patente verschlungen, mit denen wir unsere Idee geschützt haben. Ich rechne damit, dass wir ab 2019 die Gewinnzone erreichen, wenn ECOCELL auf industrieller Basis produzieren kann und die ECOCELL Standardelemente auch in Fach- und Baumärkten erhältlich sind.

Die Papierwaben werden im deutschen Sigmaringen gefertigt, die Beschichtung mit der Zement-Emulsion, die Beplankung mit Holz und das Formatieren 8 der Decken-, Wand und Dachelemente passiert in einer Fabrik in Sulgen (TG). Bleibt es längerfristig bei dieser Aufteilung?

Nein, es ist geplant, die gesamte Produktion an einem Standort zu konzentrieren. Die Wellpappe besteht zu 90 Prozent aus Luft, schon deshalb macht es keinen Sinn, sie von A nach B zu transportieren. Mir schwebt ein Standort in den Kantonen Thurgau, Sankt Gallen, Schaffhausen oder Appenzell vor. Aber auch der Vorarlberg, Baden-Württemberg oder Bayern kommen infrage.

«Es ist geplant, die gesamte Produktion an einem Standort zu konzentrieren.»

Die Elemente sind zwölfmal leichter als Beton und dreimal leichter als Holz und erlauben Deckenspannweiten von bis zu sechs Metern. Gibt es Einschränkungen bezüglich Hochbauten?
Es ist eher der Brandschutz, der dem Bauen in die Höhe Grenzen setzt. Wir konzentrieren uns gegenwärtig auf dreigeschossige Wohn- oder Bürobauten. Eine Hybridkonstruktion, der mit zusätzlichem Beton mehr Stärke verliehen wird, ist aber denkbar und würde sicher etwa achtgeschossige Gebäude erlauben.

Sie haben keine Erfahrungswerte bezüglich der Lebensdauer Ihrer ECOCELL-Häuser. Wagen Sie eine Prognose?

Das Wabenprinzip stammt von den Bienen und hat sich über Jahrmillionen bewährt, der mineralische Überzug der Wellpappe erinnert an eine Versteinerung – ich sehe nichts, was einem ECOCELL-Element etwas anhaben könnte. Allgemein ist es sowieso nicht die Konstruktion, die an der Lebensdauer nagt: Es sind die Installationen, die schnell veralten und ersetzt oder erneuert werden müssen. Das läuft oft darauf hinaus, dass der Abriss günstiger kommt als eine Sanierung. Hier sehe ich ECOCELL wieder im Vorteil, weil die einzelnen Wand- und Deckenelemente bei Bedarf leicht demontierbar sind und anderweitig wieder zu einem neuen Gebäude zusammengesteckt werden können. Ganz im Gegensatz zu einer Backsteinwand oder einer Betondecke.

Gehören Häuser aus dem 3D-Drucker bezüglich Schnelligkeit und Arbeitskosten am ehesten zu Ihrer Konkurrenz?

Nein. Eine Wellpapp-Anlage produziert in der Minute bis zu zehn Kubikmeter Wellpappe, aus der dann die ECOCELL-BETONWABEN gefertigt werden – diese Baumasse kriegt ein 3D-Drucker niemals hin. Ausserdem benötigt ein ECOCELL-Haus keine zusätzliche Isolation und kann dank der erwähnten Leichtbau- und Elementbauweise schnell und jederzeit umgebaut bzw. zurückgebaut und anderswo neu zusammengesteckt werden.

Deutsche, Chinesen und Südamerikaner haben Interesse an Lizenzen für Produktionsstätten in ihren Ländern gezeigt. Wie weit sind diese Pläne gediehen?

Solche Pläne können erst konkretisiert werden, wenn wir hier in Europa ein erstes industriell produzierendes Werk aufgebaut haben und zeigen können, wie gross das Potenzial wirklich ist.

Sie sind 61 Jahre alt, und keines Ihrer vier Kinder wird den Betrieb übernehmen. Welche Gedanken haben Sie sich bezüglich Nachfolge gemacht?

Idealerweise übernimmt ein grosser, weltweit aufgestellter Partner die Herstellung und Vermarktung der ECOCELL-BETONWABE und des ECOCELL-Schnellbausystems. Die Voraussetzungen dazu sind nicht schlecht, die nötigen Wellpapp-Anlagen und die Infrastruktur für die Weiterverarbeitung gibt es in praktisch jedem Land der Welt. Meine zukünftige Rolle sähe ich in der Weiterentwicklung des Produkts und seiner Anwendungen.

Sie sind mit den Firmen Iseli A+P und ECOCELL ein aktiver WIR-Teilnehmer. Welche Bedeutung hat das WIR-System für Sie?

Ich habe ein Leben lang mit WIR gearbeitet und bin ein unbedingter Befürworter des WIR-Systems. Wichtig sind in meinen Augen ein realistischer Annahmesatz – in unserer Branche zwischen 5 und 10% –, eine kontinuierliche Bewirtschaftung aller WIR-Aspekte und die unbedingte Parität zum Schweizer Franken. Die Neuerungen im WIR-System haben mich positiv überrascht. Besonders attraktiv ist produktseitig die Mehrwert-Hypothek WIR mit ihrem Negativzins von –1,5%: Nicht die Bank, sondern der Kreditnehmer erhält die Zinszahlung!

Quelle: ecocell.ch